„Ein Pakt der Völkermörder“ – Interview mit Shir Hever

Shir Hever über den globalen Waffenhandel, der den Völkermord in Gaza anheizt

Wir haben uns mit dem renommierten Ökonomen Shir Hever unterhalten. In diesem Gespräch erklärt Hever, wie Israels Völkermord in Gaza durch internationale Komplizenschaft aufrechterhalten wird – insbesondere durch Deutschland, das nach wie vor einer der wichtigsten militärischen Partner Israels ist. Wir haben das Gespräch am 30. September 2025 aufgezeichnet, bevor der partielle Waffenstillstand in Gaza im Oktober 2025 in Kraft trat. Der vollständige Text und die Videoaufzeichnung sind unten verlinkt. Die Zitate wurden aus Gründen der Länge und Verständlichkeit bearbeitet.

Wenn Shir Hever über die israelische Rüstungsindustrie spricht, tut er dies mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Erforschung von Besatzung und Apartheid:

„Ich beschäftige mich seit über zwanzig Jahren mit der israelischen Besatzung und dem Apartheid-System“, sagt er. „Meine Kollegen in gemeinsamen palästinensisch-israelischen Organisationen haben mir viele Fragen zur israelischen Rüstungsindustrie gestellt, deshalb habe ich auch meine Doktorarbeit zu diesem Thema geschrieben.“ Und Hever erläutert eine Besonderheit seiner Arbeit: „Was meine Recherchen möglich macht, ist, dass ich Hebräisch spreche. So viele Informationen – Interviews, Berichte, sogar Beschwerden von Soldaten – erreichen niemals ein internationales Publikum.“

Seit dem 7. Oktober 2023 haben die Bombardierungen und Massenmorde Israels an Palästinensern ein beispielloses Ausmaß erreicht. Hever beschreibt diesen Wandel nicht nur in der Rhetorik, sondern auch in der Bewaffnung. „Früher war die israelische Rüstungsindustrie auf Waffen zur Kontrolle und Unterdrückung spezialisiert – Tränengas, Überwachungssysteme und so weiter. Aber für einen Völkermord braucht man andere Werkzeuge. Jetzt importiert Israel mehr Waffen für die Massenvernichtung.“

Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor Israels wichtigster Waffenlieferant und liefern mehr als 60 Prozent seiner Waffen. Hever betont jedoch, dass Deutschland sowohl direkt als auch durch industrielle Zusammenarbeit zur zweitwichtigsten Quelle geworden ist. Neben diesen beiden Ländern „liefern Länder wie Großbritannien, Italien, Frankreich und sogar Serbien und Indien Komponenten und Materialien mit militärischen und nicht militärischen Verwendungszwecken, die Israels Kriegsmaschinerie am Laufen halten.“

Wir haben Hever gefragt, was kleinere Lieferanten seiner Meinung nach tun können, um Israels Kriegsmaschinerie zu stoppen. Er erklärt, dass viele kleinere Staaten bereits begonnen haben, etwas zu bewirken: „Einige Länder haben den Export von Sprengstoff und Zündern eingestellt, und plötzlich beklagten sich israelische Offiziere, dass sie Munition rationieren müssten. Das hat große Auswirkungen gehabt, auch wenn es nicht ausreicht.“ Selbst ein teilweises Embargo kann Leben retten.

Deutschlands versteckte Komplizenschaft

Hever argumentiert, dass Deutschlands Komplizenschaft über Waffen hinausgeht und viele Ebenen wirtschaftlicher und diplomatischer Unterstützung umfasst. Was Waffen angeht, „liefert Deutschland Israel jede Art von Waffen – Zielfernrohre, Kriegsschiffe, Drohnen, Artillerie“, sagt er. „Am tödlichsten ist die 155-Millimeter-Kanone, die gemeinsam von Rheinmetall und Israels Elbit Systems entwickelt wurde. Jede Kanone kann 500 Granaten pro Tag abfeuern, wobei jede Granate 45 Kilogramm wiegt. Diese Technologie ermöglicht den Völkermord.“

Er hebt auch die Waffe Matador hervor, die von der deutschen Firma Dynamit Nobel mitproduziert wird und von der israelischen Infanterie zum Zerstören von Wohnhäusern in Gaza eingesetzt wird. „Sie wird als Panzerabwehrwaffe vermarktet, aber Israel nutzt sie, um Wohnhäuser zum Einsturz zu bringen.“

Ein weiteres wichtiges Beispiel ist der Merkava-Panzer, dessen Motoren und Getriebe in Deutschland hergestellt werden. „Es gibt sogar ein Video des israelischen Militärs, das die Montage des Panzers zeigt – jeder Motorblock ist deutlich mit „MTU“ gekennzeichnet, einer deutschen Marke“, sagt Hever. „Das wird nicht einmal geleugnet.“

Diese Zusammenarbeit, erklärt er, sei nicht leicht zu ersetzen. „Es handelt sich nicht nur um Blaupausen und Teile – es sind Jahrzehnte gemeinsamer Expertise und Vertrauen. Deutschland und Israel tauschen seit über fünfzig Jahren Technologie aus, seit den Reparationsabkommen der 1950er Jahre. Jedes Hindernis, das wir dem entgegenstellen können, jedes Land, das sagt: Nein, wir sind nicht an Ihren Völkermordwaffen interessiert und wir werden nicht mit Israel zusammenarbeiten, ist ein Schlag für die israelische Rüstungsindustrie, sowohl unmittelbar als auch langfristig.“

Leugnung, leere Gesten und Gesetzeslücken

Auf die Frage, was noch unbekannt ist, verweist Hever zunächst auf die absichtliche Intransparenz. „Die deutschen Behörden geben unterschiedliche Antworten gegenüber dem Internationalen Gerichtshof, den Medien, ihrem eigenen Parlament und sogar gegenüber den Mitarbeitern der Rüstungsunternehmen“, sagt er. „Jemand lügt. Und diese Lüge selbst ist illegal, und die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“

Er erklärt, dass die Desinformation sichtbar wird, wenn man Medien auf Hebräisch, Englisch und Deutsch vergleicht. „Auf Hebräisch findet man Offiziere, die mit neuen Geschossen prahlen, die aus Deutschland kommen. In den deutschen Medien wiederholen Journalisten meist die Regierungslinien. Und auf Englisch findet man noch einige Untersuchungen. Selbst rechtsgerichtete Medien in den Vereinigten Staaten liefern einige Fakten darüber, welche Arten von Bomben die USA an Israel liefern, wie viele und wann sie geliefert wurden. In den israelischen oder deutschen Medien findet man das nicht. So wissen wir, dass die Wahrheit verschleiert wird. In Deutschland kommt noch das sehr ernste Problem hinzu, dass Journalist:innen der Regierung bedingungslos loyal gegenüberstehen.“

„Ich sage nicht, dass die israelischen Medien besonders genau und vertrauenswürdig sind, aber in den hebräischen Medien gibt es viele Diskussionen von Israelis, die nicht wissen, was in der Welt geschieht. aber es gab dort zum Beispiel Aussagen von israelischen Soldaten, die über die neuen Panzergranaten aus Deutschland sprechen. Das wirft wirklich sehr ernste Fragen auf.“

Im August 2024 kündigte die deutsche Regierung an, dass sie keine neuen Waffenexporte mehr genehmigen werde, „die in Gaza eingesetzt werden könnten“. Einige Medien berichteten darüber als Waffenembargo. Hever ist anderer Meinung. „Es war eine Ankündigung an einem Freitag – nur wenige Stunden bevor Israel eine neue Offensive in Gaza startete. Und sie galt nur für zukünftige Exporte, nicht für bestehende Verträge. Deutschland behauptete, es könne „Raum und Zeit nicht beugen“, um alte Lizenzen zu widerrufen. Aber das ist falsch – die belgische Region Wallonien hat genau das bereits getan und sich dabei auf das Völkerrecht berufen.“

Deutschland, fügt er hinzu, halte an einer „fiktiven Unterscheidung“ zwischen „Kriegswaffen“ und „sonstiger Rüstungsgüter“ fest. Dadurch können weiterhin Güter wie Panzermotoren, Radarsysteme oder Materialien mit doppeltem Verwendungszweck – Komponenten, die später in israelischen Raketen gefunden wurden – exportiert werden. „Selbst als ein in Deutschland hergestelltes Teil in einer Rakete fotografiert wurde, die ein Flüchtlingslager getroffen hatte, haben weder das Unternehmen noch die Regierung dies anerkannt“, sagt Hever. „Ja, die Erklärung war symbolisch – aber Symbole können die öffentliche Wahrnehmung verändern, und das ist wichtig.“

Viele Regierungen formulieren ihre Politik nun als „teilweise Embargos“ und beschränken sich nur auf Waffen, die „in Gaza eingesetzt werden“. Hever hält diese Logik für absurd. „Armeen funktionieren als Systeme. Man kann ‚Übungswaffen‘ nicht von denen trennen, die töten. Israelische Soldaten haben zugegeben, dass sie deutsche Treibmittel mit der Aufschrift ‚nur für Übungszwecke‘ verwenden, um echte Granaten auf Gaza abzufeuern.“

Hever verweist auch auf Lieferanten außerhalb Westeuropas – Serbien, Rumänien und Indien –, deren Rolle oft übersehen wird. „Serbien hat sogar für kurze Zeit Deutschland als zweitgrößten Waffenlieferanten Israels überholt“, stellt er fest. „Serbien und Israel haben eine gegenseitige Vereinbarung, die Völkermorde des jeweils anderen – Srebrenica und Gaza – nicht anzuerkennen. Es ist ein Pakt der Völkermörder.“

Indien, fügt er hinzu, sei ein Paradoxon: Millionen Menschen dort unterstützen Palästina, doch die Regierung verkauft weiterhin Drohnen und Sprengstoff an Israel. „Unsere Informanten in Indien gehen große Risiken ein, um diese Lieferungen aufzudecken. Das zeigt, dass im Globalen Süden Solidarität real ist – aber Unterdrückung auch.“

Aufbau internationaler Solidarität

Als ehemaliger Koordinator des Militärboykotts für die Boycott, Divestment, Sanctions (BDS)-Bewegung sieht Hever die aktuelle globale Welle des Aktivismus sowohl als tragisch als auch als hoffnungsvoll an. „BDS wurde so konzipiert, dass es in mehreren Stufen funktioniert: Boykotte an der Basis, Desinvestitionen der Zivilgesellschaft und schließlich Sanktionen der Regierung“, erklärt er. „Ich dachte, das Militärembargo würde Jahrzehnte dauern. Aber der Völkermord hat alles beschleunigt. Wenn das Gesetz so eindeutig verletzt wird, handeln die Menschen schneller.“

Als Beispiel für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Aktivisten, Anwälten und Politikern nennt er Spanien. „Die Organisation an der Basis, die Berichterstattung in den Medien und die juristische Arbeit führten zu einer echten politischen Wende. Selbst der spanische Ministerpräsident, der einst pro-israelisch eingestellt war, musste ein EU-weites Waffenembargo fordern, als seine Koalitionspartner sagten: ‚In Zeiten des Völkermords spielt unsere politische Karriere keine Rolle.‘ Das ist die Macht des organisierten Drucks.“

Auf die Frage, welche Botschaft er den Lesern in Deutschland mitgeben möchte, zögert Hever nicht. „Man muss nicht in der Regierung sein, um etwas zu bewirken. Wer auch immer Sie sind, Sie können etwas tun, um den Waffenhandel zu stoppen. Selbst wenn es nur die Teilnahme an einer Demonstration ist, denn diese verändern die öffentliche Meinung. Letztendlich werden sogar die sehr gehorsamen deutschen Gewerkschaften, Journalist:innen, Hafenarbeiter:innen und Flughafenmitarbeiter:innen die Realität vor ihren Augen erkennen müssen.“